Therapeutische WG
Ein Erfahrungsbericht von "Victory"
Als ich 1995 Hilfe in einer Therapeutischen
Wohngemeinschaft (WG) gesucht hatte, wurde ich dort schlimm
retraumatisiert. Ich brauchte zwei Jahre, bis ich darüber schreiben konnte.
Wer sich „danebenbenahm“, wurde von den übrigen WG-lern in die
Zange genommen. Hatte man keine guten Gründe zur Hand, warum man
sich so oder so verhalten hatte, weil man sich darüber noch nicht im
Klaren war oder wenn den Leitern die Antwort nicht gefiel, tönte es so:
„Wir alle wissen ganz genau, warum du dich so verhalten hast. Es war
aus diesem und diesem Grund. Wir alle wissen es! Du weisst es auch! Du
willst es nur nicht zugeben.“ Schlussendlich, vielleicht nach Stunden, gab
man „es“ zu, auch wenn „es“ nicht stimmte. Wenn sie nur aufhörten,
einen zu bedrängen! Doch bevor man sich danach nicht gehörig gedemütigt
und die anderen nicht kriecherisch um Vergebung gebeten hatte (auch
wenn man sich keiner Schuld bewusst war), wurde die Tortur nicht
beendet! Und natürlich musste man die angemessene Bestrafung, die sie
Konsequenz nannten, gleich selbst vorschlagen ... Man zog immer den
Kürzeren! Und vielleicht musste man, damit man „zur Besinnung kam“
sogar stundenlang in einer Ecke stehen. Ohne Essen, ohne auf die Toilette
zu dürfen, ohne sich die Nase putzen zu können.
Oder wie wäre es damit: Wir durften untereinander nicht über Probleme,
Fehler oder Ungerechtigkeiten der Leiter oder Mitarbeiter reden,
sonst wurde man, fand es jemand heraus, bestraft. Und irgendwie fanden
sie immer alles heraus, weil irgendwann irgendeine der Therapieteilnehmerinnen
redete, um sich selbst zu retten. Wir mussten einander bespitzeln,
verraten und überwachen.
Man wurde bestraft, wenn man nicht laut betete, während des Lobpreises
nicht genug mitmachte, mitsang oder nicht im richtigen Moment
aufstand. Die Leiterin platzte in mein Zimmer, wenn ich im Bett war und
sie nahm mir meinen Zimmerschlüssel weg, damit ich nicht mehr
abschliessen konnte, wenn ich mich umzog.
Sie wussten geschickt geistliche und psychische Gewalt einzusetzen,
damit ich nicht weggehen konnte, sondern immer wieder einwilligte,
meinen Aufenthalt zu verlängern, auch wenn ich es nicht wollte. Sie sagten,
ich würde sowieso gleich wieder in der Psychiatrie landen, wenn ich
von ihnen wegginge. Oder sie sagten, es wäre sowieso nicht Gottes Wille,
von ihnen wegzugehen. Sie sprachen, als wären sie die Einzigen, die Gottes
Willen für mein Leben kennen würden. Und ich hatte nicht die innere
Kraft, mich zu wehren!
Tat ich einmal nicht sofort das, was sie von mir verlangten, hiess es:
Wenn du jetzt nicht machst, was wir wollen, musst du nachher nicht kommen
und Hilfe suchen! Ich brauchte Hilfe, also tat ich, was sie wollten, ob
ich selbst es wollte oder nicht.
Das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Mein Aufenthalt in dieser WG war
zu lang. Genau so viel zu lang, wie ich dort gewesen bin! Die Wirklichkeit
war härter, unbarmherziger und voller Albträume, auch im Wachzustand,
als ich es hier auf Papier ausdrücken kann! Unter Albträumen leide ich
noch heute, mehr als zwei Jahre nach der Befreiung. Doch sie wandeln
sich langsam. Ich kämpfe, ich halte stand, ich sage, was ich immer hinunterschlucken
musste - und dann laufe ich doch wieder weg und habe nur
noch Angst davor, sie könnten mich finden und zurückholen...
Schlimm war vor allem auch, dass ich niemanden um Hilfe bitten
konnte. Nicht einmal mein Tagebuch erfuhr die Wahrheit. Ich war durch
entsprechende Schulung als Kind so genial im Verdrängen, dass ich lange
Zeit nicht wusste, dass die Schuld an meinem Unbehagen, meiner
Beklemmung in Bezug auf die WG, nicht meine eigene war, sondern die
von geistlichen Missbrauchern! Lange dachte ich, dass ich mich zu wenig
eingebe, hingebe, aufgebe und zu wenig willenlos bin, um nur noch zu
wollen, zu tun und zu denken was sie mir vorschrieben.
ES IST WUNDERBAR, FREI ZU SEIN!
Info: Inzwischen habe ich keine Albträume mehr von dieser Zeit. Und
wenn ich mal von ähnlichen Situationen träume, finde ich immer einen
Ausweg, kann mich behaupten, standhalten, weiss mich zu wehren und
laufe nicht mehr einfach in Panik davon! Und da ich immer wieder vergeben
und an keiner Bitterkeit festgehalten habe, fühle ich mich in Beziehung
zu der WG-Zeit nun frei und gesund.
Obigen Text habe ich 1998 geschrieben. Seit meiner Flucht aus dieser so genannten Therapeutischen Wohngemeinschaft sind 8 Jahre vergangen und noch sind nicht alle Nachwirkungen vorüber ...