... statt christliche Experten
Geistliche Reife – eines der wichtigsten Bedürfnisse unserer Zeit. Eigentlich war es immer so, aber wir müssen einen neuen Zugang zu ihr finden. Der durchschnittliche Gemeindepastor steht heute vor der Sisyphusaufgabe, seinen Gemeindegliedern praktische Anleitung und Lehre zu einer unüberschaubaren Fülle von Themen zu geben, die exponentiell mit der Komplexität unserer Gesellschaft wächst.
Für Bruder Otto und Schwester Helene «Normalchrist» steht heute eine nie dagewesene Fülle von Angeboten zur Verfügung, die ihnen alle irgendein christliches Erlebnis versprechen: An Konferenzen, Tagungen, in Zeitschriften, Büchern und auf Kassetten werden alle erdenklichen Themen behandelt – von A wie Abtreibung bis Z wie Zweifel. Kann das der Weg sein, dass ein Christ zu jedem möglichen Thema ein entsprechendes «How to?» lernen muss? Bringt ihn das zu geistlicher Reife? Wenn ich nach Wegen zur Reife suche, stosse ich im Neuen Testament auf Paulus, der drei Jahre dazu verwendete, der Gemeinde in Ephesus den «ganzen Ratschluss Gottes» beizubringen (Apostelgeschichte 20, 27). Er scheint damit gerechnet zu haben, dass die Christen nun ein «Koordinatennetz» haben, das sie befähigen würde, all die vielen Entscheidungen in Eigenverantwortung zu treffen. Johannes schrieb sogar: «Ihr braucht nicht, dass euch jemand belehre. Ihr habt die Salbung». (1. Johannes 2, 27).
Reife und mündige Christen haben Jesus
Reife, mündige Christen haben Jesus, die Salbung des Heiligen Geistes und einen Begriff vom ganzen Ratschluss Gottes. Dadurch sind sie fähig, eigenständige und geistlich reife Entscheidungen zu fällen, bei welchem Thema auch immer. Die Arbeit in der Gemeinde muss unbedingt auf die Heranbildung reifer Christen abzielen, die nicht ewig am Tropf des Pastors oder christlicher Bücher hängen bleiben, sondern zu selbstständiger Ernährung, zu Selbstverantwortung in Entscheidungen und zu ihrem eigenen Dienst heranwachsen. Wozu Reife? Das Leben ist ein Entwicklungsprozess, der von der Geburt über viele Stadien bis hin zu einer Reife in verschiedenen Bereichen führen sollte: Im biologischen Wachstum, in der Charakterbildung, im sozialen Verhalten usw. Was man charakterlich bei einem Kind noch versteht, ist bei einem Teenager schon problematischer und bei einem Erwachsenen inakzeptabel. Im Biologischen bedeutet Reife, dass alle vorhandenen Anlagen herausgebildet werden, welche die Voraussetzung zu erfolgreicher Fortpflanzung sind.
Geistliche Reife, damit Grosses geschehen kann
Auch im Geistlichen ist Reife eine Voraussetzung, damit die grösseren Ziele geschehen können, die Gott – gerade in unseren Tagen – mit unserer Welt hat. Ziele, die nur mit der Mobilisation des ganzen Volkes Gottes erreichbar sind. Ich bin überzeugt, dass wir viele Umwälzungen, Krisen, Zerbrüche und Veränderungen heute nur verstehen, wenn wir Gottes Absicht dahinter sehen: Endlich die Masse seines Volkes, diesen schlafen-den Riesen, aufzuwecken. Endlich die Reserven, die Gaben und die Kräfte zu mobilisieren, die – nicht zuletzt durch entmündigende Strukturen – jahrhundertelang geschlummert haben. Reife Christen leben von Jesus her, kennen ihre Aufgabe und ihren Dienst in der Welt und wissen, welchen Beitrag sie zum Aufbau des gewaltigen Werkes, genannt Reich Gottes, zu leisten haben. Sie haben die Phase des «Ich-mir-meiner-mich» hinter sich gelassen, sind ihren kleinen Zielen und der Welt gestorben, um Gott und der Welt mit aller Leidenschaft zu dienen.
Acht Merkmale geistlicher Reife
Wenn man die wichtigsten Bibelstellen zum Thema zusammennimmt, kristallisieren sich einige Kennzeichen von Reife, Mündigkeit und «Vollkommenheit» aus, die uns eine Vorstellung geben, auf was wir hinwachsen sollen.
1. Reife bedeutet: Ich kenne mein Mass
«Jeder von uns hat die Gnade nach dem Mass der Gabe Christi bekommen.» (Epheser 4, 7) Wir vergleichen uns alle gern und versuchen, im Schielen nach links und rechts unsere Identität zu definieren. Dabei schwanken wir in der Regel zwischen Depression («So wie die werde ich nie») und Überhebung («Was der kann, kann ich schon lange – und erst noch besser») hin und her. Jahrelang litt ich selbst darunter, dass ich nicht so erfolgreich und konsequent war wie Prediger X. Es war dann ein Erlebnis für mich, erst mal zu verstehen, dass Gott mir ein persönliches Mass an Glaube und Gaben gegeben hat, und dann dieses Mass zu finden. Es ist ein wesentlicher Schritt zur Reife, dass ich aufhöre mit dem Vergleichen nach links und rechts und dazu stehen lerne, wie Gott mich ausgerüstet hat. Man kommt irgendwie zur Ruhe; und paradoxerweise kann dann dieses Mass enorm wachsen. Als reifer Christ kann ich mich mit grosser Gelassenheit an Menschen freuen, die mehr Gaben haben als ich – ich bin für mein Mass verantwortlich, nicht für das der anderen.
2. Reife heisst: Ich stehe im Dienst
Die mündigen Christen sind die, die ihr Leben als Dienst verstehen – Dienst im umfassenden Sinn (Epheser 4, 12a). Die Frage ist nicht zuerst, welchen Dienst ich tue oder ob ich den Dienst in der Gemeinde oder in der «Welt» tue, sondern ob ich bereit bin zum Dienst. Das ist ein grundlegender Paradigmenwechsel gegenüber der «Komme-ich-in-den- Himmel?»-Haltung. Wir sind errettet, «um dem lebendigen Gott zu dienen» (1.Thessalonicher 1, 9). «Christus ist für uns gestorben, damit wir nicht mehr uns selber leben.» (2. Korinther 5, 15) Es ist Unsinn, einen Widerspruch zwischen «Gott lieben, Beziehung haben» und «Gott dienen» zu konstruieren – wie ich es schon gehört habe, nach dem Muster: «Früher hat man Gott nur gedient, heute haben wir eine Liebesbeziehung.» Gar nichts gegen eine Liebesbeziehung, aber irgendwann müssen wir mal runter vom Schoss und raus in die Welt. Jesus sagte: «Wer mich liebt, tut, was ich sage.» Basta. Eine entscheidende Frage, die man an alle gemeindlichen Strukturen stellen muss, ist darum: Werden Christen hier in die Fülle ihrer Berufung geführt? Das bedeutet wohlgemerkt nicht: Sind sie irgendwo Mitarbeiter?, sondern: Werden sie zu ihrem Dienst zugerüstet? Diese Zurüstung in den Dienst hinein ist ein wesentlicher Schritt zur Reife und Mündigkeit – und der einzige Weg, dass der ganzen Welt das ganze Evangelium durch die ganze Gemeinde gebracht werden kann. Es ist eine Zentralfrage jeder Leiterschaft, ob sie Christen kontrolliert und bevormundet oder zur Reife und damit zum eigenständigen Dienst bringt.
3. Reife sieht den ganzen Leib Christi
In unserer überindividualisierten Gesellschaft können wir uns das nur mit Mühe vorstellen und müssen doch ein neues Bild davon gewinnen: Es geht nicht um den Einzelnen und seine individuelle Vervollkommnung zuerst, sondern um eine neue Körperschaft, um die mündige Kirche (Epheser, 4, 12b–13). Christus will nicht nur Individuen in den Himmel bringen, sondern einen Leib aufbauen. Reife sieht und sucht den Leib. Alle Gaben sind für den Leib Christi da. Der reife Christ baut nicht sein eigenes «empire», sondern Gottes «kingdom». Natürlich hat jeder einen anderen Horizont – für die meisten wird der Leib «vor Ort» sein, für andere ist es eine landes- oder gar weltweite Beziehung. Wichtig ist, dass wir den Leib Jesu aufbauen und nicht uns selbst suchen. Reife ist also immer irgendwo eine kollektive Erfahrung. Wir sind miteinander unterwegs, bis wir die Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes erlangen und miteinander in die volle Fülle des Masses Christi hineinreifen (Epheser 4, 13). Kein Einzelchrist, keine Hauskirche, keine Gemeinde und keine Denomination kann allein die Fülle Christi darstellen. Wir müssen aktiv die Ergänzung suchen, um miteinander zur Reife zu wachsen.
4. Reife hat mit Festigkeit zu tun
Wie viele Versprechungen hat es in den letzten Jahren gegeben und durch wie viele Wellen sind wir gegangen! Wie viel Segen war da, aber auch wie viel Druck und letztlich unerfüllte Erwartungen! Ein mündiger Christ hat einen eigenen Standpunkt. Er weiss über die Lehre Bescheid, hat gelernt, «feste Speise» zu verdauen (vgl. Hebräer 5, 11–14) und kann von der Schrift her beurteilen. Weil er in Christus und seinem Wort daheim ist, lässt er sich nicht mehr von den neuesten Fakts und Wellen beeindrucken (Epheser 4, 14f.) Er weiss, dass es keine Abkürzungen gibt, und fällt nicht auf jede Versprechung hinein wie ein Kleinkind (so der wörtliche Ausdruck in dieser Hebräerstelle). Ein reifer Christ hat es gelernt, die Wahrheit in Liebe zu sprechen (Epheser 4, 15) – darum kann er bisweilen ein unbequemer Zeitgenosse sein. Gerade weil es ihm um Christus geht, fällt er auf selbsternannte Messiasse nicht herein. Er weiss: Ich muss nicht überall mitmachen, wenn es bei mir nicht anklingt. Ich kann Gott danken, dass er andere mit einem Anliegen beauftragt hat. Ich sollte nie aus einem Druck oder aus Angst heraus irgendwo mitmachen! Nur nebenbei: Es gibt heute neben der alten viel neue, auch charismatische Gesetzlichkeiten. Der Text in Epheser 4, 16 zeigt auch: Reife braucht Vielfalt. Jede Art von Monokultur führt nicht zur Reife des Einzelnen. Darum braucht es verschiedene Leute, Gaben und Dienste in der Gemeinde. Die Anerkennung der Vielfalt ist nicht notwendiges Übel, sondern gerade Zeichen einer reifen Gemeinde und geradezu Voraussetzung für das Heranwachsen von reifen Christen. «Der polyphone Klang des Reiches Gottes» muss hörbar sein (W. Vorländer) – besonders wichtig in einer Zeit, die nach Patentrezepten lechzt, die dann gern zum alleinigen Schlüssel werden.
5. Ein reifer Christ schaut vorwärts
Einen Standpunkt zu haben bedeutet nicht, dass man alles weiss – im Gegenteil: Ein reifer Christ weiss, wie wenig er weiss, wie wenig er noch von Gott weiss. Das macht demütig und bringt immer wieder auf die Knie. Aber er geht vorwärts (Philipper 3, 13–15). Es war mir eine Offenbarung, als ich erkannte, dass «Vollkommenheit» im Neuen Testament nicht einen Stand beschreibt, den man erreicht (oder eben nicht), sondern eine Richtung, in die man unterwegs ist. Das neutestamentliche Wort «vollkommen», griechisch teleios, bedeutet «zielbewusst». Wie entkrampfend! «Ich hab es noch nicht erreicht, aber ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt», sagt Paulus, und fügt dann in Vers 15 an: «Alle, die reif (vollkommen, zielbewusst) sind, sollten eine solche Haltung haben.» «Vergessen, was hinter mir liegt.» Das griechische Wort, das hier gemeint ist, bedeutet nicht einfach «vergessen» im Sinne von: «Ich habe meinen Regenschirm vergessen», sondern es ist ein starkes, aktives Wort, im Sinne von: «Es interessiert mich nicht mehr, keine Zeit dafür, denke nicht mehr daran!» Forget it! Was hinter mir liegt, soll mich nicht mehr beschäftigen. Warum? Weil ich ein Ziel vor Augen habe. Ein reifer Christ bedauert nicht seine Vergangenheit, er lebt versöhnt mit ihr. Das heisst nicht, dass nicht in gewissen Momenten des Vorwärtsgehens ein Stück seelsorgerliche Aufarbeitung nötig sein kann. Aber ein reifer Christ weiss, dass nicht seine Vergangenheit, sondern das Ziel ihn bestimmt. Er hat die Hand an den Pflug gelegt und lebt «teleios», zielbewusst. Wenn er zu Boden fällt, steht er wieder auf. Da ist ein Ruf, da ist ein Feld zu pflügen, ein Lauf zu gewinnen. Ich lasse mich nicht mehr von jedem Wind ablenken, sondern segle vorwärts: entweder mit dem oder zur Not auch gegen den Wind. Aber ich habe einen Kurs.
6. Ein reifer Christ kann unterscheiden
Hebräer 5, 14 sagt uns, dass ein reifer Christ «durch Übung geschulte Sinne» hat. Er hat ein geistliches Empfindungsvermögen für richtig und falsch, wichtig und unwichtig. Er hat gelernt, die Stimme Gottes, die seiner eigenen Natur und die des Feindes zu unterscheiden. Er ist erfahren und lässt sich nicht mehr alles vormachen. Solche Menschen sind eine wichtige Stütze in der Gemeinde oder Väter und Mütter für eine Hausgemeinde. Von daher ist die Gabe der Unterscheidung der Geister nicht nur übernatürliche Einsicht, sondern auch Ergebnis von jahrelang trainiertem Empfinden. Unser Text (Hebräer 5, 11f.) macht aber auch deutlich: Reife ist nichts Selbstverständliches. Der Schreiber beklagt, dass Christen eben nicht zu der Reife herangewachsen sind, die sie der Zeit nach schon längst haben sollten. Sie brauchen noch Milch. Wir alle kennen Männer und Frauen, die sich weigern, erwachsen zu werden – es ist oft bequemer, im infantilen Stadium zu bleiben, wo man keine Verantwortung tragen muss, im natürlichen wie im geistlichen Leben.
7. Ein reifer Christ ist durch Prüfungen standhaft geworden
Zur Reife gibt es keine Abkürzung, und in der Regel ist der Weg dazu auch mit Schmerzen verbunden. Jakobus 1, 2–4 zeigt uns den normalen Weg zur Reife: Anfechtung – Bewährung – Standhaftigkeit – Reife. Letzthin sagte mir ein Freund: «Vertraue niemandem, der nicht zerbrochen ist!» Angriffe, Krisen und Schmerzen sind Werkzeuge Gottes zur Reife, das ist auch heute noch so. Angriffe zeigen mir immer wieder schmerzhaft meine Unfähigkeit auf und machen darum immer radikaler von Christus abhängig. Und allen Instantlösungen und «Ich-will-alles-und-das-jetzt»-Gebeten zum Trotz braucht Reife Zeit und hat etwas mit Standhaftigkeit, einer Art positiver Sturheit zu tun: «Ich habe Gott kennen gelernt und weigere mich, zurückzugehen und den Platz zu räumen.» Anfechtungen sind darum nicht etwas Wegzubetendes, sondern etwas, über das man sich freuen soll, sagt Jakobus. Das ist Gottes Logik! Jede bestandene Prüfung macht uns zum Anwärter für die nächste.
8. Ein reifer Christ liebt bedingungslos – auch seine Feinde
Wer sich jetzt unter einem gereiften Christen einen griesgrämigen Durchhalte-Fanatiker (nach dem Muster «Gring abe und seckle») vorstellt, täuscht sich gewaltig. Reife Christen lachen viel, nicht zuletzt über sich selbst. Sie lernen, in der Freude des Herrn zu bleiben und den Frieden Gottes als ihr Erbe zu beanspruchen. So wächst die Frucht des Geistes in ihnen heran. Vor allem aber sind sie darum Menschen der Liebe. Das merken sogar ihre Gegner. Mitten in der Bergpredigt bringt Jesus eine generelle Liebe zu den Menschen, eine Liebe sogar zu den Feinden, und die «Vollkommenheit» zusammen. Diese Liebe bildet den Vater im Himmel ab (Matthäus 5, 48). Paulus nennt die Liebe geradezu das «Band der Vollkommenheit» (Kolosser 3, 14) – wenn an irgendeinem Kriterium, dann kann man christliche Reife an der Liebe ablesen, zu der ein Mensch herangewachsen ist.
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Christliches Zeugnis
Datum: 16.10.2005