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Geistlicher Missbrauch Schweiz

Pastorenamt 2

Ein deutscher Pfarrer scheint das Problem erkannt zu haben und bestätigt:
Das Pastoren- resp. Pfarramt entstammt keineswegs der Bibel!

Quelle: Livenet



Was die Volkskirche kann – wenn sie will

„Die neue Reformation – Vorüberlegungen zu einer neuen kirchlichen Gesetzgebung“: Unter diesem Titel hielt Pfarrer Dr. Klaus Douglass, Niederhöchstadt bei Frankfurt, am 17. September 2002 in der Aussprachesynode der reformierten Zürcher Landeskirche einen Vortrag.
Douglass fordert die Kirche auf, sich konsequent an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren und ihre Strukturen durchgreifend zu vereinfachen. – Livenet dokumentiert den Vortrag, der von seiner Aktualität nichts verloren hat, in gekürzter Form (Zwischentitel von der Redaktion).


Meine verehrten Damen und Herren,

ich bedanke mich herzlich für die Möglichkeit, auf Ihrer Aussprachesynode zu referieren. Zum einen ist das eine grosse Ehre für einen gewöhnlichen Gemeindepfarrer, zum anderen bedeutet Ihre Einladung für mich auch eine ziemliche Überraschung.

Als ich in meinem Buch «Die neue Reformation» schrieb, wir hätten in der Kirche viel zu viele Gesetze, Regeln und Vorschriften und die Synoden sollten sich ernsthaft Gedanken darüber machen, wie sie das bestehende Regelwerk durch ein deutlich abgespecktes, flexibleres ersetzen können, habe ich nicht im Ernst daran geglaubt, dass sich eine Synode im deutschsprachigen Raum auf absehbare Zeit ernsthaft auf ein solches Vorhaben einlassen würde.

Wenn wir als Kirche überleben wollen…
Man mag sich fragen, warum ich den Vorschlag denn dann gemacht habe. Die Antwort ist ganz einfach: Weil wir keine andere Wahl haben, wenn wir als Kirche die nächsten Jahrzehnte überleben wollen. Sie haben das (meines Wissens) als erstes erkannt und schicken sich an, es in die Tat umzusetzen. Dafür zolle ich Ihnen tiefen Respekt.

Ich möchte Ihnen heute morgen gerne Mut machen, es nicht nur mit einer mehr oder minder einschneidenden Reform Ihrer Kirchengesetzgebung zu versuchen, sondern mit einer umfassenden Reformation Ihres kirchlichen Systems überhaupt. Was ist der Unterschied?

…tut mehr als Reform Not
Eine Reform ist eine mehr oder minder grosse Verbesserung eines bestehenden Zustandes. Eine Reform betrifft meist einen Teilbereich eines komplexen Gesamtsystems. Sie kann mehr oder weniger weit gehen, wirkt aber im Endeffekt systemstabilisierend. Zumeist wird sie durch einen Menschen oder durch ein Gremium erlassen, das dazu die Machtbefugnisse hat. Reformen können zwar durch die Basis angeregt werden, werden aber in der Regel «von oben» verordnet.

Anders die Reformation: Hierbei geht es nicht nur um eine graduelle Verbesserung, sondern um eine grundlegende Veränderung des Bestehenden. Eine Reformation bezieht sich nicht nur auf einen Teilbereich – und sei er noch so gross –, sondern auf das System selber. Weil dem so ist, werden Reformationen nur selten durch «Machthaber» erlassen. Hierbei gibt es löbliche Ausnahmen, in aller Regel aber werden Reformationen «von unten» initiiert.

Klimawechsel
Eine Reform verhält sich zur Reformation wie eine Erderschütterung zu einer geotektonischen Umbildung, wie ein reinigendes und befruchtendes Gewitter zu einem Klimawechsel, der eine völlig neue Fauna und Flora hervorbringt. Letzteres ist es, was wir als Kirche brauchen. Wir brauchen sie

- zum einen und zuallererst aus theologischen Gründen. Ich glaube, dass unsere Kirche sich meilenweit von dem entfernt hat, was sie nach der Absicht Gottes eigentlich sein sollte. Das, was wir Kirche nennen und das, was sich das Neue Testament darunter vorstellt, dazwischen stehen Welten – und zwar nicht nur der «garstige Graben der Geschichte» oder der unterschiedlichen Kultur. Wir haben uns vielmehr von vielen grundlegenden Prinzipen des neutestamentlichen Gemeindeaufbaus schon seit langem verabschiedet – und haben derzeit die Riesenchance, diese wiederzuentdecken und wieder mit an Bord zu nehmen.

- Denn zweitens stecken wir derzeit binnenkirchlich in einer gewaltigen Krise. Wir müssen uns ändern, allein schon aus bedrängenden Sachzwängen heraus. Ich brauche das nicht weiter auszuführen, sondern nenne nur die Stichworte: rückläufiger Gottesdienstbesuch, allgemeiner Mitgliederschwund, immer weniger Geld in den Kassen usw. Wir sind in einer gewaltigen Krise.

Aber Krisen, meine Damen und Herren, sind nie nur negativ! Krisen sind immer auch Herausforderungen an uns, neue Wege auszuprobieren. In jeder Krise steckt ein enormes schöpferisches Potenzial. Wer sich einer Krise nicht nur passiv hingibt, sondern ihre Herausforderung annimmt, fängt an, zwangsläufig unkonventionell zu denken, er probiert Dinge aus, die er noch nie getan hat, er findet neue Wege und macht neue Erfahrungen.

- Drittens schliesslich haben sich das Lebensgefühl, die Sozialformen, die Kommunikationsmittel, die Werte und Prioritäten sowie die kulturellen und anderen Bedürfnisse der Menschen um uns herum rapide geändert. Und es ist wenig erkennbar, dass die Kirche allzu sehr auf diesen allgemeinen Wandel eingegangen ist. Wir führen unsere Gemeinden und feiern unsere Gottesdienste immer noch weit gehend nach dem alten Strickmuster vergangener Zeiten. Und damit verlieren wir mehr und mehr den Anschluss an die Menschen von heute.

Auf diese Art und Weise wird die Kirche mehr und mehr zum Sammelbecken alter, müder und resignierter Menschen, die den Wandel der Welt nicht mehr verstehen und die hoffen, wenigstens in der Kirche einen Hort des Ewig-Bleibenden bzw. des guten Alten zu finden. Das ist – neben den Kasualien und unseren umfänglichen diakonischen Aktivitäten – sozusagen die «ökologische Nische», die uns in dieser Gesellschaft bleibt – und ich bin mir nicht sicher, ob wir uns damit zufrieden geben können.

Drei Gründe sprechen also für eine neue Reformation inmitten der bestehenden protestantischen Kirche:
- Gott will es so; er hat seine Kirche anders gedacht.
- Wir müssen uns ändern, wenn wir die derzeitige Kirchenkrise überleben wollen.
- Eine Volkskirche muss den Menschen ihrer Zeit viel näher sein als wir das derzeit tun.

Ich möchte Ihnen im Laufe der nächsten Stunde sagen, an welchen Punkten ich Änderungsbedarf sehe. In meinem Buch «Die neue Reformation» nenne ich zwölf Punkte, auf die Sie als Synodalinnen und Synodale aber nicht immer direkten Einfluss haben. Sehr viele der notwendigen Veränderungen können nicht «von oben» verordnet werden, sie müssen «von unten» aus den Gemeinden wachsen. Sie können dazu lediglich die Voraussetzungen schaffen bzw. Hindernisse dazu beseitigen.

Eine Ordnung der Kirche, die Gemeinden zum Neuanfang befähigt
Darum beschränke ich mich auf sieben Punkte, in welche Richtung eine neue Kirchengesetzgebung gehen sollte, um den Gemeinden die Möglichkeit zu geben, die nötigen Änderungen durchzuführen. Wenn Sie es sich genau anschauen, werden Sie merken, dass diese Punkte alle um die gleiche Achse kreisen.

1. Das herkömmliche Pfarramt abschaffen
Die erste Änderung: Schaffen Sie das herkömmliche Pfarramt ab. Ich fange gleich mit dem Radikalsten an und weiss, ich mache mir mit diesem Vorschlag nicht nur Freunde. Aber mit Ihrem Unterfangen, die komplette Gesetzgebung Ihrer Kirche zu verändern haben Sie eine Jahrhundertchance. Und diese Chance wäre vertan, wenn Sie diese wesentliche und wichtigste Änderung nicht vornehmen würden, an der zwar nicht alles, aber doch so vieles hängt.

Bitte hören Sie genau hin! Ich sage nicht: «Schaffen Sie die Pfarrerinnen und Pfarrer ab». Ich sage vielmehr: «Schaffen Sie das herkömmliche Pfarramt ab.» Das Pfarramt, so wie wir es kennen und wie es sich seit Jahrhunderten etabliert hat, ist ein Krankheitssymptom unserer Kirche. Es entstammt keineswegs der Bibel.

Das an sich ist noch nicht schlimm, denn in der Bibel gibt es auch vieles andere noch nicht: beispielsweise keine Gemeindesekretärin. Aber das Pfarramt, so wie wir es kennen, unterläuft und sabotiert geradezu das neutestamentliche Bild von Gemeinde. Jetzt sagen Sie mit Recht: «Ein Hirten- bzw. Pastorenamt gibt es doch auch im Neuen Testament.» Aber das Hirtenamt des Neuen Testamentes ist etwas völlig anderes als unser Pfarrberuf.

Das Pastorenamt im Neuen Testament ist stark geprägt von persönlichen Beziehungen. Darum hat der Pastor im Neuen Testament auch immer nur eine relativ kleine, überschaubare Gruppe um sich herum, in der Regel zwischen 10 und 20 Leuten. Das Pastorenamt im Neuen Testament ist ein wichtiges, aber keineswegs das wichtigste Amt.

Neutestamentliche Gemeinden werden vielmehr von Teams geleitet, in denen neben den Pastoren noch Apostel, Evangelisten, Lehren und Propheten sitzen. Ich habe jetzt nicht die Zeit, diese Ämter einzeln zu erklären, sondern beschränke mich auf den für unseren Zusammenhang entscheidenden Hinweis, dass die Funktionen aller fünf Ämter im Lauf der Jahrhunderte auf eine einzige Person konzentriert wurden: eben den heutigen Pfarrer. Und so ist es bis heute geblieben.

Das Anforderungsprofil an einen Pfarrer ist unglaublich! Der Pfarrer soll alles machen: Die Kinder lehren, den Konfirmandenunterricht halten, die Alten besuchen, den Kranken beistehen, Kinder taufen, Trauungen und Beerdigungen halten und dazu selbstverständlich die nötigen Vor- und Nachgespräche führen. (…)

Freilich ist die Not nicht nur für die betreffenden Pfarrerinnen und Pfarrer sehr gross. Genauso leiden die Gemeinden unter der Pfarrer(innen)zentrierung. Denn die Gemeinde wird auf diese Weise unmündig gehalten. Der frühere Leiter des Amts für Gemeindeaufbau in Österreich, Klaus Eickhoff, hat einmal ziemlich drastisch gesagt, dass unsere pfarrerzentrierten Gemeinden zu «geistlichen Behindertenanstalten» degeneriert seien: Das «Dienen» der Pfarrer sei mit einer Mutter zu vergleichen, die zu ihrem Kind sagt: «Du brauchst nie laufen zu lernen. Ich laufe ein Leben lang für dich.»

Indem sie dem Kind tatsächlich alles abnimmt – und damit auf Dauer natürlich auch eine bestimmte Anspruchs- und Erwartungshaltung bei diesem Kind weckt –, bewirkt sie, dass das Kind ein Leben lang mit unentwickelten Beinen im Bett liegt.

Ich sage noch einmal: Das ist keinem Pfarrer persönlich anzulasten. Diese Struktur ist über die Jahrhunderte angewachsen und hat sich bis in die Strukturen unserer Kirche hinein verfestigt. Beide Seiten leiden darunter, aber Gemeinde wie Pfarrer(innen) sind davon überzeugt: So muss es sein!

Und so begnügt sich die Gemeinde damit, mehr schlecht als recht, aber doch immerhin bedient zu werden, und der Pfarrer gibt sich dem sicherlich nicht unberechtigten Gefühl hin, dass er die wichtigste Person der Gemeinde ist und dass ohne ihn nichts läuft. Anspruchs- und Servicedenken auf der einen sowie das gute Gefühl, gebraucht zu werden und unentbehrlich zu sein, auf der anderen Seite vereinigen sich im herkömmlichen Pfarramt zu einer verhängnisvollen Symbiose. In unseren Gemeinden, aber auch in den Herzen vieler Pfarrer herrscht eine schreiende Not.

Die derzeitigen Strukturen unserer Kirche mitsamt dem Pfarrerbild, das unsere Kirchenordnung vermittelt, zementieren diese Not auch noch. Sie als Synode haben die Möglichkeit, das zu ändern – bitte tun Sie es! Planen Sie dafür Übergangszeiten ein – das gilt übrigens für alle von mir gemachten Vorschläge –, schaffen Sie Härtefällregelungen, bieten Sie Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten an, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer diesem neuen Berufsbild auch entsprechen können (sie sind darauf ja nicht unbedingt vorbereitet), ändern Sie Ihre Curricula bei der Pfarrerausbildung. Sie fragen sich, in welche Richtung. Davon redet mein nächster Punkt:

2. Den Schatz wieder entdecken: Alle sollen geistlich wirken…
Die zweite Änderung: Aktivieren Sie das allgemeine Priestertum der Gläubigen.

Wenn ich mich hier nachhaltig für die Aufhebung der Pfarrer(innen)zentrierung ausspreche, dann bedeutet das keineswegs, dass ich für die Auflösung des Pfarrerstandes plädiere. Der Pfarrer wird auch in Zukunft ein wichtige Rolle spielen. Allerdings eine völlig andere als bisher. Um es in einem Schlagwort zusammenzufassen: Der Pfarrer wird in Zukunft nicht mehr die priesterähnliche Gestalt im Mittelpunkt der Gemeinde sein, sondern er ist vielmehr der Anleiter der Priesterschaft.

Hinter diesem Gedanken steht, wie Sie unschwer erraten können, die neutestamentliche Konzeption des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen. Diese ist im Lauf der Jahrhunderte völlig verschüttet worden, bis Martin Luther diese Lehre wiederentdeckte und sie als einen der Eckpunkte des protestantischen Glaubens bezeichnete. Was er damit machte, war nicht mehr und nicht weniger, als dass er im Rückgriff aufs Neue Testament die über ein Jahrtausend festgefügte Trennung zwischen sogenannten «Geistlichen» und so genannten «Laien» aufhob.

Von dieser Sicht der Dinge haben wir uns weit entfernt. In der evangelischen Kirche ist es längst wieder üblich, von «Geistlichen» und von «Laien» zu reden – mit allen Folgen, die das für die eine wie für die andere Seite hat. In einer tödlichen Mischung aus Trägheit und Bequemlichkeit auf der einen und einem stark ausgeprägten Kontrollbedürfnis auf der anderen Seite haben wir uns selbst dieses ungeheuren Schatzes beraubt.

Predigt, Seelsorge und Unterweisung – also die theologischen Schlüsselaufgaben – sind auch 500 Jahre nach der Reformation die alleinige Domäne der Pfarrer. Für die Laien blieben meist nur die Hilfsjobs. Sie dürfen in unserer Kirche in aller Regel nur Handlangerdienste tun. Sie dürfen «den Pfarrer unterstützen». Die eigentliche geistliche Kompetenz aber liegt faktisch beim Pfarrer. Sogar, wenn es um ein simples Tischgebet geht, schauen alle auf ihn.

Auf kaum einem Gebiet hat in unserer Kirche eine so starke Rekatholisierung stattgefunden wie auf diesem. Machen Sie die Probe aufs Exempel: Ich habe mal eine an sich ziemlich rege Gemeinde besucht, die eines Sonntags über einen ihrer Kircheneingänge das Schild hängte: «Nur für Geistliche». Was meinen Sie, was es vor der anderen Tür für ein Gedränge gab! (…)

…und der Pfarrer soll sie anleiten und motivieren
Vor einigen Jahren hatte ich eine persönliche Krise. Ein gesundheitlicher Einbruch legte mich für mehrere Monate lahm, und selbst als ich wieder einigermassen bei Kräften war, merkte ich, dass ich nur noch 80% meiner vorherigen Leistungskraft hatte. Ich bat Gott damals inständig um die Wiederherstellung meiner früheren Leistungsfähigkeit. Gott erhörte mein Gebet, aber auf völlig andere Weise, als ich mir das vorgestellt hatte.

Meine Kraft kam nicht zurück, sodass ich nach einiger Zeit zu meinen Kirchenvorstehern und Hauskreisleitern ging und ihnen sagte: «Leute, ich schaffe es nicht mehr. Ich habe einfach nicht mehr die Kraft, die vielen dringlichen Dinge zu tun, die man von mir erwartet. Wir müssen uns anders organisieren. Ich bitte euch um folgendes: Macht ihr den pastoralen Dienst. Ich sorge dafür, dass ihr mit dem Wort Gottes versorgt werdet und dass die Gemeinde aufgebaut wird. Darin will ich in Zukunft meine Zuständigkeit sehen: dass die Gemeinde wächst und dass ihr geistlich gut versorgt werdet. Ich will dafür Sorge tragen, dass Ihr dazu in Stand versetzt werdet. Ihr aber geht hin und kümmert euch um die Leute!»

Heute denke ich, dass damals mit das Grossartigste passiert ist, was einem Pfarrer und einer Gemeinde widerfahren kann. (…) Das Prinzip, dem ich damals – weniger aus Tugend, als vielmehr aus Not! – auf die Spur gekommen war, lautet: «Ein Pfarrer kann sich nicht zerteilen, aber er kann sich vervielfältigen» (Klaus Eickhoff).

Heute glaube ich, dass das die eigentliche Aufgabe des Pfarrers ist. Mehr noch: Ich glaube, dass das die Aufgabe aller hauptamtlichen Kräfte in der Gemeinde ist, zumindest wenn sie in irgendeinem geistlichen Bereich mitarbeiten. Ob Kirchenmusiker oder Jugendleiterin, ob Sozialarbeiterin oder Diakon: Ich würde eine hauptamtliche Kraft heute nur noch einstellen und dafür bezahlen, dass sie sich multipliziert. Dass sie die mannigfaltigen Gaben, die in jeder Gemeinde vorhanden sind, freilegt und die entsprechenden Menschen fördert und begleitet. (…)Wir dürfen Hauptamtliche nicht in erster Linie dafür bezahlen, dass sie die anstehende Arbeit machen, sondern wir müssen sie dafür bezahlen, dass sie dafür sorgen, dass die anstehende Arbeit auch ohne sie geschieht. Das gilt auch und vor allen Dingen für die Pfarrerin und den Pfarrer.

Dazu ist uns die Gabe der Leitung gegeben: zur Entfaltung der anderen Gaben! (…) Der Pfarrer mag zuständig für den Gottesdienst sein, aber das kann nur bedeuten, dass er ein grosses Team von Menschen aufbaut, die ihm dabei nicht nur Handlangerdienste leisten, sondern selber «gottesdienstfähig» werden.

Den Religions- und Konfirmandenunterricht soll er nur selber halten, wenn er eine Gabe für Kinder und Jugendliche hat – sonst richtet er mehr Schaden an als Gutes. Stattdessen soll er Sorge dafür tragen, dass Leute aus der Gemeinde mit dem entsprechenden Herzen und der richtigen Gabe diese Aufgaben versehen. Ich wüsste keine einzige Aufgabe, die des Pfarrers alleinige Domäne wäre und wo er nicht den Auftrag hätte, ehrenamtliche Gemeindeglieder zu befähigen, das intensiv und gut zu tun, was er infolge seiner Aufgabenfülle immer nur oberflächlich und nie richtig tun kann.

Die Rolle des Pfarrers wechselt sozusagen vom «Spieler» zum «Trainer». Früher gestaltete der Pfarrer das Spiel. Er war Torwart, Abwehrspieler, Libero und Stürmer zugleich – und die Gemeinde schaute zu und bewertete sein Spiel. In Zukunft wird es so sein, dass nicht mehr der Pfarrer das «Spiel» bestreitet. Jedenfalls nicht mehr alleine. Viele der früheren Zuschauer werden auf das Spielfeld gewechselt sein. Sie werden die Erfahrung machen, dass Fussballspielen viel mehr Freude macht als Zuschauen. (…)

Sie als Synodale und Synodalinnen haben es heute in der Hand, die Kirchenordnung auf diese Richtung hin zu verändern. Ändern Sie die Dienstanweisung für die Pfarrerinnen und Pfarrer dahingehend, dass Sie ihnen weniger Spieler- als vielmehr Trainerfunktionen zuordnen. Und konzipieren Sie die Gemeinden so, dass sie schon von der Struktur her sich eben nicht um die Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern um das allgemeine Priestertum drehen.

3. Gemeinden als Multiplikationsstätten des Evangeliums...
Die dritte Änderung: Machen Sie Ihre Gemeinden zu Multiplikationsstätten des Evangeliums.

Ich ringe hier etwas nach Worten. «Multiplikationsstätten» gefällt mir selber nicht. Worum es mir geht, dass wir endlich damit aufräumen, unsere Gemeinde als Endverbraucherstätten anzusehen: Die Hauptamtlichen bieten den Service, die Gemeindeglieder begnügen sich mit der Konsumentenrolle. Dieses Bild hat sich zwar allgemein eingebürgert, ist aber grundlegend falsch.

In Epheser 4, 11-12 heisst es: «Er (= Jesus) hat einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden.» (…) Die Pastoren sind ohnehin nur ein Teil der Führungsmannschaft der Gemeinde, deren gemeinsamer Auftrag es ist, die «ganz normalen» Gemeindeglieder zum Dienst zuzurüsten und anzuleiten. Mir ist in diesem Zusammenhang wichtig, was das für unser Bild von Gemeinde bedeutet:

Gemeinde, so verstanden, ist nämlich nicht ein Rückzugsort oder eine Wagenburg der letzten Frommen, die sich und ihre Kultur gegen den Rest der Welt verteidigen. Sie ist nicht primär die Hürde, in der die Schafe Unterschlupf finden und gepflegt werden, sondern Gemeinde nach neutestamentlicher Vorstellung ist sehr viel offensiver. Sie ist Ausgangspunkt einer Bewegung, die hinausstrahlt in die Welt, die wie ein Sauerteig um sich greift, um alles um sich herum mit der Botschaft von der Liebe Gottes anzustecken.

Bonhoeffer hat einmal gesagt: «Kirche ist nur Kirche, wenn sie Kirche für andere ist.» Damit hat er recht.

…Gemeinschaften mit Ausstrahlung…
Das Wesen der Gemeinde Jesu ist Pro-Existenz (= da sein für andere). Darum komme ich noch einmal mit dem Begriff: Multiplikationsstätte. Gemeinde ist der Ort, wo Menschen lernen, ihren Glauben zu multiplizieren, das heisst ihn mit anderen zu teilen, ihn weiterzugeben. «Was nicht zum Dienst wird, wird zum Raub» sagt Martin Luther. Das gilt auch und zuallererst für den christlichen Glauben.

Glaube ist nichts, was ich für mich selbst behalten kann, sonst zerrinnt er mir unter den Händen. Bei vielen Menschen ist die Gemeinde der Ort, wo sie zum Glauben finden, aber sie muss darüber hinaus auch zum Ort werden, wo sie im Glauben wachsen können, bis dieser Glaube so reif ist, dass er sich reproduziert – wie ein lebendiger Organismus, der reift und seine Reife dadurch zeigt, dass er sich fortpflanzt.

Der reife Glaubende als Multiplikator und die Gemeinde als der Ort, wo Menschen systematisch auf diesen Prozess vorbereitet und dabei begleitet werden – so legt es uns das Neue Testament nahe. Ich sehe dabei vor allem drei Gebiete, wo sich der Glaube fortpflanzt, sozusagen eine dreifach Stossrichtung der Gemeinde: Die Mission, die Diakonie und die Spiritualität. An diesen drei Punkten haben wir wie ein Sauerteig in unsere Gesellschaft hineinzuwirken. Das war schon in der Apostelgeschichte so, und das hat sich bis heute nicht verändert. (…)

…und Zentren spirituellen Lebens
Zur Spiritualität: Es ist schon merkwürdig. Unsere Zeit «dampft» geradezu vor Religion – die Leute haben eine ganz ausgeprägte religiöse Sehnsucht, so sehr, dass sie bereit sind, jedem duftstäbchenschwingenden Guru hinterherzulaufen und jeden noch so grossen Mist zu glauben – nur wir als Kirche profitieren nicht davon. Und das ist für mich ein Ärgernis. Denn ich bin davon überzeugt, dass Jesus Christus die Antwort auf den spirituellen Hunger unserer Zeit ist.

Aber die Leute haben keine Ahnung davon, weil das, was sie in unseren Gemeinden erleben, sie so überhaupt nicht anspricht, ihre religiöse Sehnsucht so überhaupt nicht trifft, weil sie in dem, was sie bei uns an Gebet und Spiritualität erleben, so wenig Elan, so wenig Hingabe, so wenig Begeisterung sehen. Bestenfalls behaupten wir es noch, dass Jesus die Antwort auf ihre religiöse Sehnsucht ist, erfahrbar wird s für sie in unseren Gemeinden aber nicht. Und hier müssen wir uns ernsthaft fragen, ob unsere Gemeinden nicht in viel stärkerem Masse als bisher zu spirituellen Zentren werden müssen, in denen die Menschen das Beten lernen, und zwar auf eine Art und Weise, die ihnen gemäss ist, die ihnen Spass macht und die ihr innerstes Sehnen stillt. Gemeinden als Zentren und Schulen der Spiritualität – das ist meine Vision! (…)

Vor allen anderen Aktivitäten müssen wir den Christen in unseren Gemeinden beibringen, wie sie ein erfülltes, kurzweiliges und leidenschaftliches Gebetsleben führen können. Nur so können wir das Feuer in unseren Gemeinden neu entfachen: indem wir den Menschen dabei helfen, mit Leidenschaft und Hingabe zu beten. Und es hätte eine gewaltige Wirkung nach aussen, kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen. Auch das müsste meines Erachtens als Auftragsbeschreibung in Ihre Kirchenordnung!

4. Maximale Befugnisse für die Gemeinde vor Ort…
Die vierte Änderung: Geben Sie den Gemeinden vor Ort ein Maximum an Entscheidungsbefugnis. Letztlich heisst das nicht mehr und nicht weniger als: Bauen Sie Hierarchien ab. Lassen Sie die Leute entscheiden, die die konkrete Arbeit vor Ort tun. Das gilt natürlich nicht nur für die klassische Ortsgemeinde, sondern auch für alle anderen kirchlichen Arbeitsbereiche.

Manche von Ihnen werden das nicht gerne hören, aber die Gemeinden und Arbeitszweige vor Ort brauchen keine Obrigkeit. Eine hierarchische Ordnung innerhalb der Kirche ist im Neuen Testament nicht vorgesehen und es hat der Kirche auf lange Frist mehr geschadet als genutzt, dass sie sich parallel zu den weltlichen Fürstentümern organisiert hat. Sie als Synode haben die einmalige Gelegenheit, diese alten Zöpfe abzuschneiden und damit endgültig den Sprung ins dritte Jahrtausend zu schaffen.

Verstehen Sie mich recht: Ich bin kein Kongregationalist. Meine Idee ist nicht, die Grosskirchen abzuschaffen. Aber die Zuordnung muss klar sein: Die Kirche ist ein Zusammenschluss von Gemeinden. Sie steht nicht über der Gemeinde. Die Institution Kirche soll Gemeinden nicht behindern, sondern freisetzen. Wenn Gemeinden bei in ihrem Handeln ständig darauf achten müssen, dass sie auch ja die Vorschriften der Institution Kirche recht beachten, dann wedelt der Schwanz mit dem Hund. Denn die Gemeinden sind nicht dazu da, der Institution Kirche zu dienen, sondern die Institution Kirche ist dazu da, den Gemeinden zu dienen. (…)

…in fünf Bereichen
Nach meiner Überzeugung wird eine Gemeinde, die nicht mehr pfarrerzentriert ist, auf Dauer auch keine andere Autorität mehr über sich zulassen. Das ist konsequent umgesetztes «Priestertum der Gläubigen» auf höherer Ebene. Sie können dem in ihrer neuen Kirchenordnung Rechnung tragen. Ich sehe im Wesentlichen fünf Bereiche, in denen unsere Gemeinden wieder die alleinige Zuständigkeit zurückbekommen müssen:

(1) Die erste Kompetenz, die eine Gemeinde erlangen muss, ist das Recht auf eine eigene Profil- und Schwerpunktbildung. Gemeinden müssen die Möglichkeit haben, sich in ihrem Angebot möglichst unbelastet von irgendwelchen Vorgaben von aussen eng an den Bedürfnissen ihrer Mitglieder und ihrer potenziellen Mitglieder zu orientieren. Eine Gemeinde hat nicht nur das Recht, sondern sollte geradezu verpflichtet werden, eine eigenes Leitbild für ihre Arbeit zu entwickeln, das speziell auf die Bedürfnisse und Gegebenheiten vor Ort ausgerichtet ist. (…)

Die Zeit, dass eine Gemeinde allen Menschen alles bietet, ist schon lange vorbei! Diese von vielen Kirchenordnungen transportierte Vorstellung setzt einen weit gehend homogenen Menschentypus voraus, aus dem sich unsere Gemeinden rekrutieren, den es zumindest im grossstädtischen Bereich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gibt. Die Antwort auf den enormen Differenzierungsschub, den unsere Gesellschaft in den letzten drei Jahrzehnten vollzogen hat, lautet «Profilbildung». So könnte ich mir vorstellen, dass sich die eine Gemeinde stärker politisch engagiert, während die nächste viele meditative Angebote hat und die dritte ihren Schwerpunkt vielleicht auf Kirchenmusik setzt usw.

(2) Der «Preis», den wir für eine solche Profilbildung zu bezahlen haben, ist der, dass die Gemeindegrenzen aufgelockert werden. Das wäre auch die zweite Änderung: Geben Sie den Gemeindegliedern eine grössere und leichtere Wahlfreiheit, zu welcher Gemeinde sie gehören wollen. Die Zeit, dass die Menschen zu der Gemeinde gehören, in deren Bezirk sie wohnen, ist vorbei. Das Modell stammt noch aus dem ersten Jahrtausend, wo es noch keine Autos, Fahrräder oder Strassenbahnen gab. Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen alles, was sie binnen 20 Minuten Fahrtweg erreichen können, als «nahe» empfinden. (…)

(3) Drittens muss die Gemeinde wieder die volle Hoheit über das von ihr einzustellende Personal bekommen. Gerade um ihres eigenen Profils willen muss sie selbst bestimmen können, wen sie und auf welchem Gebiet sie jemanden einstellen will. Vorgaben, welche Ausbildung eine hauptamtliche Kraft mitzubringen hat, müssen radikal gelockert werden. Wenn eine Gemeinde es beispielsweise sinnvoll findet, eine gelernte Betriebswirtin als Jugendleiterin oder einen gelernten Bäcker als Pfarrer einzustellen, muss sie dies tun dürfen. Vorgaben, was die Höhe des Gehaltes anbetrifft, sollten in Zukunft nur noch den Charakter einer Empfehlung bzw. eines Richtwertes haben, dürfen aber nicht festgeschrieben werden. Vorgaben, dass Personal nur aus der eigenen Region – oder gerade auch nicht aus der eigenen Region kommen darf –, müssen gänzlich gestrichen werden.

(4) Neben der Personalfrage muss die Gemeinde sehr viel stärker als bisher die Hoheit über ihre Finanzen zurückgewinnen. Ich bin über die Verhältnisse in der Schweiz unzureichend informiert. In Deutschland ist es so, dass nur ein ganz geringer Teil der eingezogenen Kirchensteuern tatsächlich bei den Gemeinden ankommt. (…)

(5) Fünftens müsste die Gemeinde die klare Hoheit über die Gottesdienstgestaltung auf ihrem Gebiet bekommen. Es geht einfach nicht, dass sich Gemeinden mit Agenden (= Gottesdienstordnungen) herumschlagen, die aus lang vergangenen Zeiten stammen und darüber mehr und mehr die Menschen des 21. Jahrhunderts verlieren – nur, weil ihnen das «von oben» so vorgegeben wird. Auf diese Frage werde ich nachher noch einmal ausführlicher eingehen, darum belasse ich es bei dieser Bemerkung.

Mir ist klar, dass dies alles angesichts der heutigen Realität umstürzlerisch klingt. Ich sage darum ganz deutlich: Das, was ich hier entwickle, ist ein betont und bewusst volkskirchlicher Ansatz. Ich will, dass unsere Volkskirche wieder eine Kirche des Volkes und eine Kirche für das Volk wird – und nicht nur eine Kirche für etwa 5% dieses Volkes. Wenn das der Fall sein soll, dann muss die Macht in der Kirche aber auch wieder vom Volke, das heisst von den Gemeinden ausgehen und es nützt überhaupt nichts, zu sagen: Die Gemeinden sind dazu nicht mündig. Luther und Zwingli konnten das so sagen, aber nach 500 Jahren protestantischer Kirche sollten wir in diesem Punkt eigentlich ein bisschen weiter sein bzw. alle Energien da hineinlegen, dass unsere Gemeinden mündig gemacht werden, das allgemeine Priestertum, das wir in der Theorie so hoch schätzen, auch in der Praxis auszuüben.

5. Die Formen des Gottesdienstes freigeben…
Die fünfte Änderung: Geben Sie die gottesdienstlichen Formen frei. (…) Es ist ein ganz und gar unerträglicher Zustand, dass unsere Gottesdienste seit Jahrzehnten und teilweise sogar schon seit Jahrhunderten weit gehend nach dem gleichen Strickmuster verlaufen, während sich die Menschen um herum permanent verändern. Das hat nichts damit zu tun, dass die Kirche ein Ort der Verlässlichkeit ist, sondern ist schlichtweg inflexibel und rückwärts gewandt. So können heute immer weniger Menschen etwas mit unseren Gottesdiensten anfangen.

In Deutschland bleiben in grösseren Städten rund 98% unserer Mitglieder und 99% der Bevölkerung dem Gottesdienst fern. Auf bessere Zahlen kommt man nur noch in Gegenden, in denen eine hohe Traditionsverbundenheit vorherrscht, also vor allem in ländlichen oder konfessionell stark geprägten Gebieten. Aber auch da nimmt die Verbundenheit mit dem Gottesdienst ab. Der Einheitsgottesdienst früherer Zeiten wird mehr und mehr zur Nischenveranstaltung für einen winzig kleinen Teil unserer Bevölkerung. (…)

Natürlich wollen wir keinen Menschen ausgrenzen, aber unsere Gottesdienste entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Zielgruppenveranstaltungen für ältere Menschen des gehobenen Bürgertums. Das ist an und für sich nichts Schlimmes, aber wir sollten es endlich zugeben – und uns überlegen, was wir den vielen anderen Menschen anbieten wollen! Denn auch innerhalb der älteren Generation wächst die Anzahl derer, die mit dieser Form von Gottesdienst nichts mehr anzufangen weiss. Derzeit bieten wir 95% der Gottesdienste für nicht einmal 5% unserer Mitglieder an – und das halte ich innerhalb einer Volkskirche für ganz und gar unerträglich!

Die derzeitige Gottesdienstkrise hat verschiedene Ursachen. Wenn wir hier auf einer Gottesdiensttagung wären, würde ich gerne mit Ihnen über die theologischen Ursachen dieser Krise reden. Ich glaube, dass viele Gottesdienste schlecht besucht werden, weil die Theologie, die dort verbraten wird, einfach schlecht ist. (…)

…damit er in den Alltag hineinspricht…
Aber wenn Sie die Leute auf der Strasse fragen, warum sie nicht in die Kirche gehen, bekommen sie in der Regel nämlich nicht die Antwort: «Die Theologie, die der Pfarrer vertritt, ist nicht besonders gut.» Sondern Sie hören einen Satz wie «Das sagt mir alles nichts. Das spricht mich nicht an. Das geht an meinen Bedürfnissen und meinem Lebensgefühl völlig vorbei. Anderen mag das etwas sagen, aber für mich ist das alles ziemlich langweilig.»

Das ist der entscheidende Punkt: Die Leute finden den Gottesdienst langweilig, weil er mehr oder weniger haarscharf an ihrem Lebensgefühl vorbeigeht. Gottesdienste aber, die Menschen inspirieren wollen, müssen deren Lebensgefühl ansprechen! Da haben Sie als Reformierte uns Lutheranern zwar eine Menge voraus. Sie schleppen nicht diesen Jahrhunderte alten liturgischen Ballast mit sich herum, den kaum ein Mensch heute mehr nachvollziehen kann und der ein gewaltiges Hindernis dazu ist, dass Leute bei uns in Deutschland in die Gottesdienste kommen. Aber auch Sie müssten Ihre Gottesdienste einmal daraufhin «abscannen». Setzen Sie sich mal in einen Gottesdienst und betrachten Sie ihn – nicht mit den Augen eines Insiders, sondern eines kirchendistanzierten Menschen: Was von dem, was hier passiert und gesagt wird, wirkt auf ihn einladend und was wirkt eher befremdend? Angefangen von der Gestaltung des Raumes über die Atmosphäre, die vor, während und nach dem Gottesdienst herrscht, über die Art und Weise, wie die Leute sich kleiden, welche Musik gespielt wird, auf welche Weise der Pfarrer mit den Gottesdienstbesuchern kommuniziert usw.

…und die Menschen in ihrem Lebensgefühl abholt
Menschen besuchen ja nicht nur Gottesdienste, sondern auch andere Feiern und Veranstaltungen – und sie schauen viel fern. Dort haben sich bestimmte Formen und Gestaltungselemente herausgebildet, die die Menschen heute kennen und schätzen. Ich denke etwa an Talkelemente, Interviews, Videoclips, kurze Theaterstücke, Moderation, Publikumsbeteiligung und vor allem natürlich an den Einsatz moderner Musik. Das ist heute allgemeiner Standard. Das braucht es, damit sich die Leute wohl fühlen. Und es widerspricht auch nicht der Botschaft des Evangeliums.

Ich frage mich darum: Wo haben diese Elemente in unserem Gottesdienst ihren Platz? Warum kann man dem Prediger keine Rückfragen stellen? Warum ist der Gottesdienst überwiegend auf eine Person zugeschnitten, während die Fülle der Gaben der Gemeinde brachliegt – obwohl nicht nur das Neue Testament, sondern auch das Lebensgefühl des modernen Menschen eine andere Vorgehensweise nahe legen? Warum können moderne Menschen Gott nicht mit der Musik loben, die ihrem Herzschlag entspricht und die sie auch im Radio hören? Und warum ist unser evangelischer Gottesdienst immer noch überwiegend auf das Hören ausgerichtet, während unsere Gesellschaft schon seit Jahrzehnten primär auf optische Impulse reagiert, also auf Bilder, Fernsehen, Video usw.? (…)

Das heisst nicht: den alten Gottesdienst abschaffen. Die nähere Zukunft des Gottesdienstes liegt meiner Meinung nach in einem mehrgleisigen Gottesdienstkonzept. Solange noch eine qualifizierte Anzahl von Menschen die alte Art des Gottesdienstes liebt und besucht, soll er ruhig weitergeführt werden (freilich mit einigen Modifikationen), aber gleichzeitig ist unter Hochdruck an der Entwicklung neuer Gottesdienstformen zu arbeiten, mit denen man wenigstens einen Teil der Menschen zurückgewinnt, die man über die alten Gottesdienstformen schon lange nicht mehr ansprechen kann. Und wir sollten uns nichts vormachen: Diese neuen Gottesdienste werden die Gottesdienste der Zukunft sein. Das ist eine Entwicklung, die ohnehin kommen wird, und keine Verordnung «von oben» sollte sie künstlich aufhalten, denn mit jedem Jahr verlieren wir mehr Menschen. Darum sollte es den Gemeinden ab sofort freigegeben werden, welche Art von Gottesdiensten sie anbieten will und welche nicht. (…)

6. Der Gemeinde ihre Urgestalt wieder geben: eine Ellipse…
(…) Ich glaube hinlänglich unter Beweis gestellt zu haben, dass der Gottesdienst meine persönliche grosse Leidenschaft ist. Für nichts sind wir in Niederhöchstadt so bekannt wie für unsere Gottesdienste. Und trotzdem halte ich das Bild vom Gottesdienst als dem alles beherrschenden Mittelpunkt des Gemeindelebens in dieser Einseitigkeit für falsch.

Das neutestamentliche Gemeindeleben hat nämlich zwei gleichberechtigte Mittelpunkte: Die gottesdienstliche Feier und die Hausgemeinschaft. Das ist die eigentümliche Doppelstruktur, die sich die erste Gemeinde gegeben hat, sozusagen ihre Urgestalt: Sie beschreibt keinen Kreis, der sich um eine Mitte dreht, sondern eine Ellipse mit zwei Mittel- bzw. Brennpunkten. So traf sich die Urgemeinde auch an zwei verschiedenen Orten: Im Tempel und in den Häusern.

…mit Gottesdiensten als dem einem Brennpunkt…
Im Tempel feierten sie die Gottesdienste. Genau gesagt: In den Vorhöfen dieses Tempels. Dort kamen Tausende von Menschen zusammen. Zur Feier der Liebe Gottes, zu grossen «Happenings», zu inspirierenden, begeisternden und beflügelnden Grossveranstaltungen. Diese Feier der Liebe Gottes im grossen Kreis ist durch nichts zu ersetzen und darum gilt der Gottesdienst bis heute als die zentrale und wichtigste Veranstaltung einer Gemeinde.

Freilich wird ein von vielen Menschen besuchter Gottesdienst immer zwei Schwachstellen aufweisen: Unpersönlichkeit und Unverbindlichkeit. Das heisst: Je grösser der Gottesdienstbesuch wird, desto leichter geht der Einzelne dabei verloren, umso schwerer findet man Kontakt zu anderen, umso einfacher kann man sich aber auch dem Anspruch entziehen, der von dem Gottesdienst ausgeht.

Unpersönlichkeit und Unverbindlichkeit sind die beiden Kräfte, die mit dem Wachstum einer Gottesdienstgemeinde einhergehen und ihm gleichzeitig entgegenwirken. Sie sorgen «auf natürliche Weise» dafür, dass dieses Wachstum nie zu gross wird. Denn wenn man im Gottesdienst mit niemandem Gemeinschaft hat und sich den Konsequenzen des Evangeliums immer wieder «erfolgreich» entziehen kann, wird man ihn über kurz oder lang nicht mehr besuchen. Das ist einer der Gründe, warum der Gottesdienstbesuch in vielen Gemeinden spätestens bei der «Schallgrenze» zwischen 80 und 100 aufhört zu wachsen: Ab dieser Zahl wird es unpersönlich. Und ohne persönliche Beziehungen gibt es auch keine Verbindlichkeit.

…und Hausgemeinschaften als dem andern
Die Alternative kann freilich nicht lauten, sich mit kleinen Gottesdiensten zufrieden zu geben oder gar die theologische Bedeutung des Gottesdienstes herunterzuspielen. Die Gemeinde muss vielmehr Mechanismen einbauen, die der drohenden Unpersönlichkeit und Unverbindlichkeit entgegenwirken. Die Struktur, die das Neue Testament zu diesem Zweck anbietet, ist die der Hausgemeinschaft. Die ersten Christen trafen sich eben nicht nur im Tempel, sondern auch «in den Häusern». Sie trafen sich zu grossen Veranstaltungen und in kleinen Gruppen. Die Pointe dabei ist, dass das eine das andere bedingte. Die gut besuchten Feiergottesdienste regten viele Menschen an, sich einer Hausgemeinschaft anzuschliessen. Die Hausgemeinschaften wiederum trugen erheblich zur Verlebendigung des Gottesdienstes bei.

Zugespitzt gesagt: Grosse Gemeinden kann es nur als ein Netzwerk kleiner, lebendiger Zellen geben. Wenn sie im Grossen (= im Gottesdienst) wachsen will, muss sie auch im Kleinen (= in den Kleingruppen) wachsen. Die Amerikaner sagen: «You can only grow bigger if you grow smaller.» Eine Gemeinde kann nur grösser werden, wenn sie gleichzeitig auch kleiner wird. Die Kirche wird grösser durch grosse Veranstaltungen, Gottesdienste, Feste, Evangelisationen usw. Im Kleinen hingegen wächst sie durch lebendige, verbindliche Gemeinschaft in hauskreisähnlichen Kleingruppen.

Diese doppelte Struktur war für die Gemeinden in den ersten Generationen noch selbstverständlich. Im Laufe der Kirchengeschichte ist der eine Aspekt dieser «Doppelstrategie» jedoch mehr und mehr verloren gegangen. An die Stelle der Hauskirchen sind die Kirchenhäuser getreten. Heute sagen wir: «Der Gottesdienst ist die Mitte der Gemeinde.» Im Neuen Testament aber waren die Häuser zusammen mit den Gottesdiensten die Mitte der Gemeinde – und zwar nicht nur in der Apostelgeschichte (Apostelgeschichte 2,46; 8,3; 16,40; 20,20), sondern auch in den Briefen (Römer 16,5; 1. Korinther 16,19; Kolosser 4,15 u.a.).

Ich halte es für keinen Zufall, dass nahezu alle grossen, gut besuchten Gemeinden, die ich kenne, ein mehr oder minder reges Hauskreissystem vorzuweisen haben. Eine statistisch nachgewiesene Regel besagt: Wenn nicht mindestens die Hälfte aller Gottesdienstbesucher einen Hauskreis oder eine ähnlich geartete Kleingruppe besucht, hört eine Gemeinde auf, zu wachsen. Die Kerngemeinde fängt an, im eigenen Saft zu schmoren, verliert an Dynamik, Liebe und missionarischer Kraft. Hauskreise sind zwar – wie wir noch sehen werden – kein Allheilmittel gegen diese Entwicklung, aber ohne ein Netzwerk lebendiger, ganzheitlicher, spiritueller Kleingruppen gibt es kein dauerhaftes Gemeindewachstum im Grossen. Das Haus der Kirche kann nur wachsen, wenn die Kirche in den Häusern wächst.

An dieser Stelle müssen wir erheblich umdenken. Denn ich kenne keine einzige deutsche Kirchenordnung, in der Hauskreise überhaupt erwähnt werden, geschweige denn, dass sie als konstitutiv für die Gemeinde angesehen werden. Den Preis zahlen wir mit einer Vielzahl von Gemeinden, die weit unterhalb ihres Potenzials leben. (…) Ich bin davon überzeugt: Die Gemeinde der Zukunft wird nicht mehr Hauskreise oder ähnliche Kleingruppen haben. Sie wird aus solchen Kleingruppen bestehen. (…)

7. Gemeindestrukturen radikal vereinfachen…
Die siebte Änderung: Vereinfachen Sie die gemeindlichen Strukturen – und zwar radikal.

Bei meinen Reisen durch die USA besuchte ich über ein Dutzend grosser und lebendiger Gemeinden aller möglichen Konfessionen. Dabei fragte ich die leitenden Pastoren nach ihrem «Erfolgsrezept». Immer wieder stiess ich auf den Satz: «Keep the structures simple.» («Halte die Strukturen möglichst einfach.») Während bei uns in scheinbarer Logik die Komplexität des Regelsystems mit der Anzahl der Leute und Arbeitsbereiche zunimmt, sagen diese erfahrenen Pastoren: «Damit macht ihr eure Gemeinden kaputt! Je mehr Leute und Bereiche es zu regeln gilt, desto einfacher und simpler müssen die Strukturen werden.» Der Erfolg gibt ihnen Recht – und widerlegt all unsere Bedenken, dass so etwas nicht gut gehen könne.

Was unsere innergemeindlichen Strukturen betrifft, lautet das Motto der Zukunft: grösstmögliche Vereinfachung. Möglichst viel Ballast abwerfen! Was nicht einfach geht, geht einfach nicht. Darum bitte ich Sie: Entlasten Sie die Gemeinden von 80% der bestehenden Regeln! Wir Menschen haben die Tendenz, einfache Dinge zu komplizieren. Was mit Gottes Zehn Geboten begann, walzte sich schon im mosaischen Gesetz in über 600 Einzelgebote aus. Das Spätjudentum verfasste dazu eine Fülle von Kommentaren zu diesen Geboten und Gesetzen. Dies alles geschah in der wohlmeinenden Absicht, den Menschen zu helfen und ihnen eine Orientierung zu geben. Aber gerade damit erstickte man das Leben. Zu viele Regeln strangulieren das Leben, auch wenn sie noch so gut gemeint sind. Sie ersticken das Leben deshalb, weil alle Regeln im Grunde nur zwei Fragen zulassen: Ja oder nein. Es gibt da keinen Raum für Ausnahmen, Spontaneität, Humanität und echtes, abwechslungsreiches Leben. Und vor allem gibt es keinen Raum für Weiterentwicklung. Und das ist ein Problem.

Strukturen und somit auch Kirchengesetze sind naturgemäss an den Erfahrungen der Vergangenheit orientiert. Das aber reicht nicht aus, um die Herausforderungen von morgen zu meistern. Hier brauchen wir in der Kirche entweder flexiblere Ordnungen oder einen flexibleren Umgang mit den bestehenden Ordnungen. Jesus selbst hat uns das vorgelebt. Er sagte: «Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen» (Markus 2,27) (…) Die Struktur muss dem Leben dienen.

…und die Kirchenordnung um 80 Prozent abspecken
Auf unsere Kirche bezogen bedeutet das: Wir müssen uns angewöhnen, die vorhandenen kirchlichen Strukturen streng von ihrer «Zweckmässigkeit» her zu betrachten. Alle kirchlichen Ordnungen und Strukturen müssen dazu dienen, dass sich in den Gemeinden möglichst viel Leben entfalten kann und dass Gottes Reich weltweit wächst. Sie tragen ihren Sinn nicht in sich selber. (…)

Strukturen, die befolgt sein wollen, obwohl ihr Nutzen für die gesunde Entwicklung der Gemeinden mittlerweile fragwürdig geworden ist, werden mehr und mehr zum Gemeindeaufbauhindernis, und sei es auch nur dadurch, dass ihre Befolgung Zeit kostet und die Ausbildung neuer, kreativer Formen verhindern. Sie wirken wie Sandsäcke, die aussen an einem Heissluftballon hängen und ihn daran hindern, abzuheben und zu fliegen.

Darum bitte ich Sie dringend: Wenn Sie eine neue Kirchenordnung entwickeln, sehen Sie zu, dass diese im Vergleich zur vorigen um mindestens 80% abgespeckt ist. Regeln Sie nur das, was wirklich geregelt werden muss. Strukturen müssen prinzipiell «weich» sein. Das heisst, sie müssen flexibel bleiben, damit sie auf neue Herausforderungen adäquat reagieren können, und dürfen ihren dienenden Charakter nicht verlieren. (…)

Vorangehen in Europa – mit einem Traum von Kirche
Meine Damen und Herren, ich bin am Ende meines Vortrags. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich Ihnen viel zugemutet habe. Nicht nur an Stofffülle, sondern vor allem inhaltlich. Nehmen Sie es positiv: Ich mute Ihnen das nicht nur zu, ich traue es Ihnen auch zu. Die Tatsache, dass Sie Ihr Kirchengesetz ändern, katapultiert Sie – ob Sie es wollen oder nicht – mit einem Schlag an die Spitze der kirchlichen Entwicklung in Europa. Sie werden es erleben: auch die anderen kommen um gravierende Änderungen nicht herum und alle Augen werden auf Sie schauen, die Vorreiter, wie Sie es gemacht haben – und ich möchte, dass Sie diese Chance nutzen!

Ich weiss, dass die gemeindliche Realität vielerorts völlig anders aussieht als ich Ihnen das skizziert habe. Man hat mir mehr als einmal vorgeworfen, ich sei ein Träumer. Ich verstehe das aber nicht als Vorwurf, sondern nehme das als Kompliment. Ich bin Gemeindepfarrer, ich kenne die Realität. Ich habe Dutzende von Gemeinden in ihrem Veränderungsprozess begleitet, ich weiss, wie es in den Gemeinden aussieht. Aber ich glaube dieser Realität nicht.

Eine neue Realität träumen
Ich glaube vielmehr an eine neue Realität, die sich gegenüber der heutigen Realität durchsetzen wird. Ich glaube an eine Realität Gottes, die kommen wird und die in unseren Gemeinden den Anfang nehmen wird. Der Hebräerbrief definiert Glauben als eine «feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.» Zuversicht auf etwas haben, was man nicht sieht, das nennt man allgemeinhin «träumen». Die Bibel nennt es Glauben. Insofern glaube ich, dass den Träumerinnen und Träumern die Zukunft gehört – auch und gerade in der Kirche. Bitte lassen Sie sich daher in Ihren Überlegungen zur Änderung Ihrer Kirchengesetze nicht von irgendwelchen Nöten und Sachzwängen leiten, sondern vor allem von Ihren Träumen, von Ihrem Traum von Kirche. Ich danke Ihnen.

Webseite der Kirchgemeinde von Pfr. Dr. Klaus Douglass
www.andreasgemeinde.de